OTTO-ART

          Privat-Galerie                Gnarrenburg          Thomas Otto                                        Atelier für        zeitgenössische Malerei, Musik & Fotografie

Weiße Rosen gegen das Grauen (Worpsweder Triptychon) 

Enthüllt am 17. Februar 2018 im Rahmen der Ausstellungsvernissage „Menschenbilder – Seelenbilder", kommunale Galerie „Altes Rathaus", Worpswede








Ausstellungsbesucher 

diskutieren nach der Enthüllung





Weiße Rosen gegen das Grauen

„Worpsweder Triptychon“

Beweggründe für das Werk



Ein Kind kann vielfältig reagieren, wenn es sich schämt. Davonlaufen und sich verstecken, weinen, die Hände vors Gesicht halten, zu Boden schauen... 


Der kleine Junge, der sich Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts schämt, erstarrt und schweigt. Schluckt runter, was den Magen wie eine drückende Faust presst. Der kleine Junge war ich, nein, bin ich! Stumm schaue ich in die Fratze des Schreckens. Konzentriert, aufmerksam, wissbegierig. Genau hinsehen, wie unter Zwang. Wie etwas, das wehtut, von dem man aber nicht ablassen kann, wie eine Art masochistischer Sucht zur Selbstverletzung. Und es wird nie genug sein, die kommenden Jahrzehnte.

Immer wieder Weimar. Immer wieder der Aufstieg des deutschen Faschismus. Straßenkämpfe, Verfolgungen, Rassengesetze. Der 2. Weltkrieg. Der Vater mitten drin. Die Mutter daheim im Bunker. Mein „Ich“ noch irgendwo im Genpool vergraben. Doch ich will raus. Als spätehelicher Verkehrsunfall. Baujahr 58. Vater Jahrgang ‘11, Mutter ’14.


Der kleine Junge hört Geschichten. Die Familientragödien, die Rechtfertigungen. Das Achselzucken. Das Wegsehen. Bemerkt Tabus. Das „Psst“ in den Geschichten. Das „Lass gut sein“, was nicht gut ist. Der kleine Junge fragt. Will es genau wissen, um zu verstehen, was für einen kleinen Jungen nicht zu verstehen ist. Er liest Bücher, betrachtet Bilder, immer wieder diese Bilder namenlosen Schreckens. In Folianten, in TV-Dokumentationen. Irgendwann in seinem Kopf, in seinem Herz, in seiner Seele. 

Dann sieht er ein Mädchen. Da ist er 13. Er lernt seinen Namen fast zeitgleich, wie den von Anne Frank. Das Mädchen heißt Sophie Scholl. Es hat einen Bruder, Hans. Die Geschwister Scholl. Sie geben der Schule ihren Namen, die der Junge nur einmal in der Woche besucht. Dienstagnachmittags, für die Klavierstunde. Das Geschwister-Scholl-Mädchen-Gymnasium in seiner Geburtsstadt. Warten auf den Klavierunterricht. Gedenktafel lesen. Alles anders. 

Keine Uniformen, keine zerbombten Häuser, keine Erschießungen, keine Hakenkreuzflaggen, kein Hitlergruß. Nur ein junges Mädchen mit Seitenscheitel und einer Blüte an der Strickjacke. 

Es könnte ein Mädchen aus einem der höheren Jahrgänge seiner Schule sein.
Für ihn als vorpubertierender Sproß weit entrückte Engel, die sich eh nur für die älteren Jungs, die schon fast Männer sind, interessieren. Doch dieses Mädchen besucht keine Feten, geht nicht tanzen, küsst nicht in Ecken. Das Mädchen ist längst tot. Geköpft. Verurteilt im Namen von Volk und Führer. Weil es Zeugnis abgelegt hat. Aufgestanden ist in seinem jungen Leben. Wo die, die es eigentlich besser wissen müssten, die reiferen, erwachseneren, einfach sitzen geblieben sind. Ein Mädchen aufgestanden gegen Unrecht, Gewalt und all den Gemeinheiten, Grausamkeiten und Niederträchtigkeiten, zu denen nur Menschen fähig sind. 

Der Junge schämt sich. Weil er tief in seinem Inneren ahnt, er wäre wohl auch eher sitzengeblieben als aufgestanden. Hätte wohl nicht genug Haltung gehabt, nicht genug Courage. Er will doch leben. Nicht für Werte und Ideale jung sterben, die so richtig sind und doch so schwer zu leben sind. Vor allem, wenn sie einem das Leben kosten können. Wie kann ein junger Mensch wie Sophie eine solche Kraft aus reiner Überzeugung heraus haben! Es fühlt sich fast unmenschlich an und das eigene Schwachsein umso schlimmer. Da ist sie wieder diese Scham. Die Scham bei dem, der doch heute weiß, was danach kam. Der weiß, wie recht Sophie, ihr Bruder Hans, Willi Graf und all die anderen aus der Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ hatten und trotzdem fühlt, er hätte ihren Weg in seiner Konsequenz wohl nicht gehen können. Allein. Zum Fallbeil. Der Tötungsmaschine. Die erfunden wurde, weil der angeordnete Tod damit „humaner“ sein soll, weil er schnell und präzise vonstatten geht. 

Der Junge wird Erwachsen. Studiert. Archäologie, Kunstgeschichte, Geographie – irgendwie unschuldig, deutsches Bildungsbürgerbiedermeier. Doch sein Hauptfach ist Geschichte. Schuldig! Wieder diese Themen, 30jähriger Krieg,
3. Reich, noch mehr Details, noch mehr Wissen um noch mehr Scheußlichkeiten.

Nicht lang nach dem 2. Staatsexamen. Volontariat. Hamburg. Frischluft. Durchatmen. Der kleine Junge, der ein Geschichtsstudent wurde, ist nun Journalist. Schreibt über menschelnde Themen allzu menschliches, beobachtet, hört zu, fotografiert, formuliert, fabuliert, malt, macht Musik. Eine Kackophonie der Kreativität oder verzweifelter Zwang? Wer weiß das schon...!

Er besucht einen guten Freund, der als Grafiker in München gestrandet ist. Kein Biergarten, kein Servus und kein Brezen. Stattdessen wie ferngesteuert Richtung Schwabing meandrieren. Feldherrnhalle, Theatinerkirche, Ludwig-Max-Universität. Davor weiße Störfelder im Pflaster. Flugblätter der weißen Rose – eingefügt wie weiße Versteinerungen der Erinnerung. Hier in dem Treppenhaus von diesem Gebäude wurde sie geschnappt, als sie wieder mal Flugblätter verteilten. Da sind sie wieder – die Dämonen der Scham.

Der junge Mann wird gestanden. Richtet sich ein in Privatem und Beruflichem.

Routine. Terminstress. In der Restzeit musizieren oder malen bis in die Nacht. Ein Ventil für die Seele, um alles auszuhalten. Die Eltern sagen Adieu. Der Vater mit glatten hundert. Die Mutter mit 98. Mut zur Recherche. Der Historiker kommt wieder durch. Er weiß, es existiert noch die Deutsche Dienststelle. Sie gibt Auskunft gegen Geld über ehemalige Angehörige der deutschen Wehrmacht und Kriegsgefangene im dritten Reich. Wartezeit: ca. 1 Jahr. Doch er muss es wissen. Was war mit meiner Familie, mit meinem Vater? Anspannung, als der dicke braune Umschlag irgendwann kommt.
Für 89,95 Euro Bearbeitungsgebühr. Hier ist alles festgehalten. Verwendung. Einsatzgebiete. Verwundungen. Lazarettaufenthalte. Fronturlaube. Gefangenschaft. Einfach alles, was der deutsche Amtsschimmel festzuhalten imstande ist. Erleichterung und Stolz einen solchen Vater zu haben. Er hat sich nicht schuldig gemacht. Doch es gibt keinen sauberen Krieg. Nur er wird wissen, wie schmutzig er sich wirklich angefühlt hat.

10.01.2014. Die Münchener Tageszeitungen melden: Das Fallbeil der Geschwister Scholl gefunden. Ein Foto. Ein hässliches Gestell. Mattes Grün das Eisen, Grau die Dreiecksklinge. Unerbittlich. Kalt.

Ein Schock. Da ist er wieder, der seziererische, zwanghafte, schmerzhafte Blick des kleinen Jungen auf die Banalität des Grauens. Das Bild brennt sich ein. Wird zu einer Idee. Ideen gebären Entwürfe. Entwürfe werden verworfen. Bisweilen wieder aufgegriffen. Werden auf einmal Wirklichkeit. 


Weiße Rosen gegen das Grauen. 

Ein Triptychon gegen die Scham.


Sophie Scholl, an eine Birke gelehnt. 

Nach jetzigem Stand der Recherchen (März 2018) bei der Familie Aicher-Scholl und im Institut für Zeitgeschichte, München, kann es 1938 während eines Worpswede-Besuches von Sophie Scholl mit ihrer Schwester Inge entstanden sein. Das Foto befindet sich im Nachlass Inge Aicher-Scholl im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München.